___
„Letztendlich glaube ich, dass die Krise der Bühnensprache eine Krise der Sprache selbst ist, die gerade nicht weiß, wie sie sich zu ihrem identifikativen Kern verhalten soll.“ Aus der Rede des Jurysprechers Peter Michalzik zur Eröffnung der Autorentheatertage 2015 am DT.
*
Archiv der Erschöpfung von Sascha Hargesheimer – Friederike Hellers Uraufführungs- Inszenierung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin bebildert eine rissige Gesellschaftsmetapher
–
In der dritten Uraufführung bei den Autorentheatertagen 2015 am Deutschen Theater Berlin kehrt ein Autor in der Schreibkrise in seine ebenfalls kriselnde Heimatstadt zurück, um seinen im Krankenhaus liegenden Bruder zu besuchen. Das erinnert nicht von ungefähr gleich an zwei Stücke des ebenfalls bei den Autorentheatertagen gastierenden Dramatikers Nis Momme Stockmann. In Kein Schiff wird kommen hatte Stockmann Schreibblockade und Sinnkrise eines jungen Autors beschrieben, in Bruder krank den wirtschaftlichen Niedergang einer Kleinstadt mit ihren Bewohnern zwischen Agonie, Fremdenhass und familiärer Auflösung. Sascha Hargesheimer variiert in seinem Stück Archiv der Erschöpfung diese beiden Themen um die lähmende Agonie eines Schriftstellers in einer durch tektonische Verschiebungen bedrohten Stadt mit einer großen, Veränderung bewirkenden Naturmetapher. Auch das kennen wir aus Stockmanns Stück Phosphoros. Was machte also Hargesheimers Stück für die Auswahl-Jury so interessant? Man kann es nur vermuten.
Hat Stockmann zum Naturphänomen des alles aus dem Gleichgewicht bringenden Sturms auch eine Gruppe interessanter Charaktere gesellt, die nach ihrem verschobenen Lebensmittelpunkt suchen, begnügt sich Hargesheimer mit einer größtenteils sarkastischen Zustandsbeschreibung. Sein Autor Anders flieht auf der Suche nach seinem Thema aus der Eintönigkeit des Großstadtlebens, um den Stoff für einen in 2000 Notizzetteln verborgenen Roman zu finden. Die Kleinstadt seiner Jugendtage befindet sich am Aufbrechen im doppelten Sinn. Durch Erdölbohrungen, die der Stadt Geld bringen sollen, kommt es vermehrt zu Erdbeben, die Risse in Straßen brechen, aber auch zum Aufreißen des Inneren der Gesellschaft selbst. Der Autor findet sich irgendwann in einem durch einen Schlag gegen den Kopf verursachten Traum wieder, in dem ihm beim Eindringen in einen solchen Erdriss sein verschüttetes Unterbewusstsein entgegentritt und vergangene wie gegenwärtige Wunden zu Tage befördert werden. Die Erde als großes, am Rande der Erschöpfung stehendes Geschichtsarchiv der Menschheit, das nichts vergisst, bis es – Piff Paff – zum Ermüdungsriss kommt.
Die Uraufführungsinszenierung von Friederike Heller bemüht sich den Text, der zwischen erzählender Beschreibung, einigen wenigen Dialogen und eingeschobenen Passagen mit lyrischen Metaphern besteht, passend zu bebildern. Mitunter wirkt Hargesheimers Text selbst schon wie eine Regieanweisung. Autor Anders läuft mit dem Schauspieler Daniel Hoevels als Erzähler durch die Inszenierung und trifft dabei auf Sachbearbeiter des Stadtamtes, Gutachter, Vertreter der ansässigen Wirtschaft und Provinzpolitiker sowie Krankenhausangestellte, Einwohner, die sich am örtlichen Kiosk versammeln, und die Altenpflegerin Mascha. Lisa Hrdina wechselt dabei immer wieder die Rollen genau wie ihre anderen Mitspieler Felix Goeser, Markus Graf und Almut Zilcher. Dazu unterlegt Kante-Mitglied Peter Thiessen, langjähriger musikalischer Begleiter von Regisseurin Heller, den Plot mit eingängigen Keyboardklängen.
Die Handlung beginnt vor einem die Hinterbühne abteilenden, portalhohen Metallrolladen, wo sich die Familie des Autors auf einem Sofa drängt und chorisch von der alltäglichen Kreisbahn des Familienlebens zwischen Abendbrottisch, Büroschweiß und Angst vor dem körperlichen Verfall berichtet. Almut Zilcher legt liebenswerte Karikaturen der Großmutter und Anders Verlegerin hin, die ihren verzweifelnden Schreibsprössling auch mal an die mütterliche Brust drückt. Zusammen mit Markus Graf spielt sie dann wieder ein altes Paar, das in der Badewanne Selbstmord begeht. Felix Goeser und Lisa Hrdina sind für die anderen Parts zuständig. Wobei Goeser mal mit Gasmaske an rot-weißen Absperrbändern hängend den krankenhausreif geprügelten Nazibruder an der Beatmungsmaschine mimt und dann wieder lustige Travestien und Knallchargen geben muss.
So richtig kommen Plot und Inszenierung dabei aber nicht vom Fleck. Der Text, der gesellschaftliche Risse aufzeigen sowie Geschichtsvergessenheit und Fortschrittswahn anprangern will, dreht sich immer wieder um sich selbst und die Hauptperson Anders, der seine Melancholie mit Bier abfüllt oder metaphernreich im lauwarmen Badewasser masturbiert. Das ist dann fast schon ein wenig wie Selbstironie. Das Stück erschöpft sich in den wortreichen Metaphern und schönen Formalismen des Textes und beginnt damit auch zunehmend die Geduld des Publikums zu erschöpfen. Schade drum.
***
Archiv der Erschöpfung
von Sascha Hargesheimer
Uraufführung am 25.06.2015 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin
Regie: Friederike Heller, Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt, Musik: Peter Thiessen (Kante), Dramaturgie: Claus Caesar
Mit: Felix Goeser, Markus Graf, Daniel Hoevels, Lisa Hrdina, Peter Thiessen (Kante), Almut Zilcher
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
Termine: 09. und 13. Juli 2015
Infos: http://www.deutschestheater.de/
*
**
Der neue Himmel von Nolte Decar – Zwei charmante Hochstapler entern in der Regie von Sebastian Kreyer die Autorentheatertage am DT
–
Einen Tag, nachdem das Deutsche Theater mit Sascha Hargesheimers Archiv der Erschöpfung durch einen Erdbebenriss in die Tiefen des szenischen Schreibens abgetaucht war, ging es mit dem Autorenduo Nolte Decar und derem Stück Der neue Himmel, dem vierten und letzten der durch die Jury der Autorentheatertage 2015 ausgewählten Texte, wieder in die luftigen Höhen der Comedy. Jakob Nolte und Michel Decar wurden bereits mit Helmut Kohl läuft durch Bonn zu den Autorentheatertagen 2014 eingeladen. Und auch mit ihrem Stück Das Tierreich (2014 am Schauspiel Leipzig uraufgeführt) konnten die Beiden bereits einige Erfolge feiern. Das Stück war für den Preis des Heidelberger Stückemarkts nominiert und wurde mit dem Brüder Grimm Preis des Landes Berlin ausgezeichnet.
Hier beherrscht offensichtlich jemand das Schreiben – könnte man meinen. Allerdings: Nach der Sichtung der durch Sebastian Kreyer für das Schauspiel Zürich verantworteten Uraufführung der märchenhaften Drohnen-Farce müsste das jetzt wohl wieder angezweifelt werden…
Fällt in Das Tierreich ein Leopard II-Panzer aus einem Flugzeug der Bundeswehr auf die Schule einer Kleinstadt und löst damit lauter weitere, verwirrende Ereignisse um eine Horde pubertierender Schüler aus, sind es nun vermutlich fehlgesteuerte Drohnen und Boden-Luftraketen, die nacheinander auf eine Yacht vor einer Maoriinsel in der Südsee, einen Vorortbus im kolumbianischen Bogota, eine chinesische Polarstation und ein Restaurantklo in Kaschmir krachen. Und auch zwei Mädchen in Alaska und eine Nilpferdforscherin in Afrika wundern sich über einige merkwürdige Vorgänge.
Der internationale Waffenhandel als Auswuchs der globalisierten Welt vermischt sich mit mehr oder weniger witzigen Alltagssituationen rund um den Erdball. Das ist in groben Zügen der Plot des ersten Teils des Stücks, genannt: „Algorithmus atemberaubender Schönheit und Gewalt“. Atemberaubend dämlich bebildert die Inszenierung dann das Ganze mit Südseepanorama, Palmen und einem Zwerg-Nilpferd aus Pappmache (Ausstattung: Matthias Nebel), das auch mal seinen Kopf bewegt. Beginnend mit einer Baccara-Parodie von Ay, Ay Sailor karikieren sich die Darsteller durch die Ermittlungen einer neuseeländischen Kommissarin und ihrer Übersetzerin bei Maorihäuptling Macky Tulo, der Liebesstory zweier südamerikanischer Teenies im Bus, einem aberwitzigen Toilettensketch in Kaschmir, dem schrägen Literatur-Disput von Vater und Sohn in der Arktis usw. usf.
Es treten tanzende Eisbären und Chinesen mit Reishüten sowie singende Shakira- und Madonna-Doubles auf. An den spielfreudigen Züricher DarstellerInnen Ludwig Boettger, Benedict Fellmer, Julia Kreusch, Miriam Maertens, Lisa-Katrina Mayer und Johannes Sima liegt es sicher nicht, dass sich das alles nicht zu einem Ganzen fügt. Der tiefschwarze Humor, den das Stück aus der Andeutung eines zerstörerisch agierenden, globalen Gesamtzusammenhangs gegenüber einer durchökonomisierten und geistig banalisierten Welt zieht, verliert sich in einer durch den Regisseur Szene für Szene aneinandergereihten, sinnentleerten bunten Nummern-Revue. Allerdings hat man das Thema auch in Wolfram Lotz‘ Die lächerliche Finsternis schon wesentlich dringlicher gesehen.
Im zweiten Teil vermutet man dann die Zusammenführung der zuvor lose hingelaschten Kurzdramen, wird aber nur mit einer mäßig witzigen Parodie auf englische Kriminalfilme á la Cocktail für eine Leiche (hier Drohne) und vermutlich trocken und schwarzhumorig gedachten, näselnden Schwachsinns-Dialogen abgespeist. Auf einem englischen Landsitz versammelt das Autorenduo eine Schar von Knallchargen, die einen alten Fall um den tödlich mit seiner Limousine verunglückten Chauffeur des Hauses wieder aufrollen. Es knattert mit Kommissar Nordt, der tatsächlich wie Nick Knatterton gekleidet auf dem Fahrrad daherkommt. Die gastgebende Lady Grimshaw erweist sich als faselnde Schnapsdrossel, die ihr Hausmädchen tyrannisiert, und Sohn Mortimer schwuchtelt dümmlich mit dem Richter Warwick herum.
Der stille Gast der Lady, Brigitte Roquette, entpuppt sich schließlich als weiblicher Dr. No in Gestalt einer britischen Airbase-Offizierin und ermordet das gesamte Personal nacheinander durch Ersticken in Wackelpudding, Erdolchen, Erschießen und Vergiften. Anschließend trällert sie an der Rampe die von Robert Schuhmann vertonte Mondnacht des Dichters Joseph von Eichendorff. „Es war, als hätt’ der Himmel / Die Erde still geküßt“. Recht schmeichelhaft für diesen himmlischen Schmarren.
*
Die vierköpfige Jury aus Regisseurin Jorinde Dröse, Autorin Nino Haratischwili, Schauspieler Ulrich Matthes und Kritiker Peter Michalzik muss sich fragen lassen, ob sie hier nicht ein paar charmanten Hochstaplern aufgesessen ist. Das DT hat bekommen, was es bestellt hat, und die Züricher müssen ab September mit diesem halbgaren, knallbunt angemalten Kuckucksei glücklich werden.
***
Der neue Himmel
von Nolte Decar
Uraufführung am 26.06.2015 im Deutschen Theater Berlin
Koproduktion mit dem Schauspiel Zürich
Premiere dort am 11.09.2015 in der Box des Schiffbaus
Regie: Sebastian Kreyer
Bühne und Kostüme: Matthias Nebel
Musik: Andreas Seeligmann
Choreographie: Sebastian Henn
Licht: Michel Güntert
Dramaturgie: Karolin Trachte
Mit: Ludwig Boettger, Benedict Fellmer, Julia Kreusch, Miriam Maertens, Lisa-Katrina Mayer, Johannes Sima
Besetzungsliste:
Liz Gordon / Abigail Barnes / Mishra Basu / Miss Lissy … Julia Kreusch
Eve Nowak / Chisara Lewal / Lady Grimshaw … Miriam Maertens
Carla Rivera / Zoe Heffner / Brigitte Roquette … Lisa-Katrina Mayer
Macky Tulu / Xiao Yang / Mrs Barnes / Inspektor Nordt … Ludwig Boettger
Chester Yang / Rashad Hasham / Salim Quereshi / Richter Warwick … Benedict Fellmer
Gabo Corea / Ajit Sharma / Mortimer … Johannes Sima
Infos: http://www.deutschestheater.de/spielplan/spielplan/der_neue_himmel/
—
Zuerst erschienen am 27.06.2015 auf Kultura Extra.
__________