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Pop und Protest – so heißt eine Ausstellung zum 1968er Revoltejahr im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. Darin wird der politischen und kulturellen Revolution gegen die alten, überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland gedacht. Pop und Protest bzw. Revolte gibt es auch im Deutschen Schauspielhaus Hamburg – gleich gegenüber gelegen – zu sehen. Zum Spielzeitauftakt im Oktober revoltierte die Jugend gegen die alten Väter in Shakespeares König Lear. Den Pop gab es im November mit der Rockoper Lazarus von David Bowie und Enda Walsh.
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— KULTURA-EXTRA (@KULTURAextra) January 2, 2019
In der König Lear-Inszenierung von Schauspielhausintendantin Karin Beier ist die Revolte gegen den „Muff von 1000 Jahren“ sogar eine Gender-Cross-Geschichte. Bereits 2009 hatte sie in Köln Shakespeares Tragödie des alternden König Lear, der sein Reich an seine drei Töchter abtreten will, sich dabei von zweien schmeicheln lässt und die wahrheitsliebende Tochter Cordelia verstößt, nur mit Frauen besetzt. Nun treten Samuel Weiss und Carlo Ljubek im Travestie-Wettstreit als Lear-Töchter Regan und Goneril auf, wobei sie sich ein Gesangs-Battle liefern. Dagegen zieht Lina Beckmann als Cordelia klar den Kürzeren und wird von der Preisverleihung ausgeschlossen, darf aber später als Narr ihrem Vater die verdienten Leviten lesen. Edgar Selge schreitet als Lear gleich zu Beginn sein altes Reich ab. Es ist von Bühnenbildner Johannes Schütz in einen weißen Kubus gepresst worden. Darin ein bunter Lappen, den der Alte an seine verbliebenen konkurrierenden Töchter mit der Zusage, auf Kost und Logis wechselnd bei ihnen vorbeischauen zu dürfen, verscherbelt.
Soweit der bekannte Shakespeare-Plot, der auch hier in Hamburg den Rahmen bildet. Dazu die Nebenhandlung des Grafen Gloucester (Ernst Stötzner) und seiner beiden ebenfalls ums Erbe konkurrierenden Söhne Edgar und Edmund. Wobei Sandra Gerling („I’m Eddy motherfucking the first“) den intriganten Bastardsohn geben darf und der in die Flucht geschlagene Jan-Peter Kampwirth als armer Tom dem dem Wahnsinn anheimfallenden Lear als nackter weißgekalkter philosophischer Weggefährte dienen muss. Von den beiden Transtöchtern in den Sturm geschickt, bleiben dem alten Lear nur noch sein Narr und der sich verstellende Kent, den Matti Krause als Mann aus dem Volk mit den Fredericus-Rex-Strophen auch die Züge der reaktionären Gegenrevolte eines königstreuen Landsers verleiht. „Ha! Ha! Said the Clown“ spielt Yuko Suzuki dazu auf dem Klavier.
Karin Beier legt hier thematisch viele Spuren aus, die aber als Ganzes nicht so recht zueinander finden wollen. So kommt es, dass zwar der Vater-Töchter-Streit sehr viel Raum einnimmt, Lina Beckmann als Cordelia/Narr ein paar schöne Auftritte hat, wenn sie Lear als verstoßene Tochter sanft das Haar kämmt und dem irren Alten dann als Narr die schütteren Fransen hochtoupiert. Aber der Nebenstrang um Gloucesters Bastardsohn Edmund scheint hier fast der interessantere zu sein. Das gendergeswitchte Dreigestirn, ergänzt noch um den androgynen Diener Oswald (Maximilian Scheidt) im mintgrünen kurzen Schlafanzug kämpft um die Macht im Königreich. Und wenn das Trans-Trio infernale mit schwarzer Tarnfarbe im Gesicht und wallendem Federkopfputz zum Krieg gegen Frankreich bläst, da wähnt man sich fast schon im Vorprogramm zum David-Bowie-Musical Lazarus.
So richtig findet sich da auch Edgar Selge als irrlichternder Lear nicht in die große Entertainerrolle, die er noch in Karin Beiers jüngst an der Berliner Volksbühne gastierenden Houellebecq-Inszenierung Unterwerfung inne hatte, zumal ihm am Ende, wenn alles bereits am Boden liegt, Jan-Peter Kampwirth nochmal in einer Todeschoreografie als fast schon heiner-müllerndes Orakel auf der Leiche Vergangenheit tanzend in einem langen Schlussmonolog die Show stiehlt. Das Jüngste Gericht der Jungen, die keine Erbmasse, sondern Dynamit sein wollen. Das klingt verdammt nach Nietzsche.
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KÖNIG LEAR (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 27.12.2018)
Regie: Karin Beier
Bühne und Kostüme: Johannes Schütz
Kostümmitarbeit: Astrid Klein
Musik: Jörg Gollasch
Licht: Annette ter Meulen
Ton: Hans-Peter „Shorty“ Gerriets und Lukas Koopmann
Dramaturgie: Christian Tschirner
Körpertraining: Valenti Rocamora i Tora
Artistik Trainer: Jevgenij Sitochin
Mit: Lina Beckmann, Sandra Gerling, Jan-Peter Kampwirth, Matti Krause, Carlo Ljubek, Maximilian Scheidt, Edgar Selge, Ernst Stötzner und Samuel Weiss sowie den Musikern Akiko Kasai und Yuko Suzuki
Premiere war am 19. Oktober 2018.
Termine: 09.02. / 09., 17., 18., 31.03. / 26., 27.06.2019
Infos siehe auch: https://www.schauspielhaus.de
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Zuerst erschienen am 01.01.2019 auf Kulura-Extra.
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Ein wahrer Entertainer und gleichsam Dynamit ist Schauspieler Alexander Scheer, den Regisseur Falk Richter als Hauptdarsteller seiner Lazarus-Inszenierung besetzt hat. Scheer ist der außerirdische Newton, der vom Himmel gefallene Unsterbliche aus dem Roman The Man Who Fell to Earth von Walter Tevis, in dessen Verfilmung vom jüngst verstorbenen Regisseur Nicolas Roeg David Bowie 1976 die Hauptrolle spielte. 2015 (kurz vor Bowies Tod) haben er und der Autor Enda Walsh die Story nochmal als Musical wiederbelebt. Eine Fortsetzung des Stoffs natürlich mit viel Musik. Und dass Scheer singen kann, hat er ja nicht erst als Film-Gundermann bewiesen.
In besagtem Science-Fiction-Film spielt Bowie also einen Alien, der vom umweltzerstörten Planeten Anthea zur Erde geschickt wird, um eine große Rakete zu bauen und die Umsiedlung der Zurückgebliebenen vorzubereiten. Newton macht mit Patenten zur Energiegewinnung viel Geld und verliebt sich in das Mädchen Mary-Lou, zerbricht dann aber an der Rücksichtslosigkeit der modernen menschlichen Zivilisation und wird für medizinische Experimente missbraucht.
Zu Beginn der Fortsetzung Lazarus vegetiert der gescheiterte Newton als Gin-Trinker und TV-Junkie vor sich hin. Scheer thront dabei auf einem Plexiglasstuhl auf einem der Bühne vorgelagerten blitzförmigen Steg und zappt sich durch das terrestrische Fernsehprogramm, das auf mehreren Videoscreens vor ihm gleichzeitig läuft. Ein Zusammenschnitt aus Politik und Popkultur der letzten 50 Jahre. Talking Heads wie Nixon, Bush oder Popikonen wie Micky Mouse und der Straßenkampf von 68 bis ins heutige Hamburg der G20-Krawalle flimmern in medialer Reizüberflutung. Dazu röhrt Scheer den Titelsong Lazarus als rothaariges Bowie/Newton-Inkarnation. Auch die nächsten Minuten sieht man den Schauspieler eher als verpeilten Typen in Schlafanzug und Morgenmantel, der schon zum Frühstück Chips und Gin auf Eis zu sich nimmt und seinen Tagträumen nachhängt. Newton bezeichnet sich selbst als „Sterbender, der nicht sterben kann“. Ein „Imitationsmensch“, der sich eingerichtet hat zwischen Breaking News und dem nächsten Drink.
Rezension zu #Lazarus (am Deutschen Schauspielhaus Hamburg) | https://t.co/CfDd2Tgloq (Foto: Arno Declair) || @schauspielHHaus pic.twitter.com/N2o3ems33Y
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Dem Revoltejahr 68 bereits entwachsen war David Bowie eher der androgyne Gott des 1970er-Jahre-Glam-Rock und Schöpfer verschiedenster Kunstfiguren. Was wieder gut zu Karin Beiers König Lear passen würde. Und statt Manfred Mann solo auf dem Klavier gibt es (im Lazarus) gleich eine ganze Live-Band um die Hamburger Musikerin und Theatermacherein Bernadette La Hengst, deren Interpret und Glam-Rock-Gott in Person Alexander Scheer ist. In weiteren Sprach- und Gesangs-Rollen spielen u.a. Julia Wieninger als Newtons Assistentin Elly, die eine Wandlung (Changes) von der grauen Maus an der Seite des biederen Zach (Thomas Mehlhorn) zum Glamourgirl macht, oder Gala Othero Winter, die als namenloses Mädchen aus Newtons Träumen sich als verflossene Liebe Mary-Lou inkarniert und Newton antreibt, endlich das Raumschiff für die Rückkehr zu bauen. Vieles davon ist Hirngespinst, Imagination, Projektion. So auch der androgyne Killer Valentine als dunkle Seite Newtons. Bei Tilman Strauß eine Mischung aus Mephisto mit Stiletto-Klumpfuß und Frank N. Furter (aus der Rocky Horror Picture Show) im schwarzen Lederlook.
Textlich und szenisch ist der Lazarus nicht unbedingt immer eine Offenbarung. Auch macht Regisseur Falk Richter nicht allzu viel, vermutlich auch nicht allzu viel falsch, und geht damit sehr auf Nummer sicher. Ein paar politische Anspielungen wie etwa ein Pussy-Riot-Aufritt der Girl-Dance-Group im Fuck-Söder-T-Shirt reichen ihm. Die Eyecatcher sind die fantasievollen Kostüme von Andy Besuch und die Bühne von Kathrin Hoffmann, die sich drehend mal einen kahlen Pappmaché-Felsen, mal eine bunte Märchenwaldwelt zeigt. Letztendlich machen die Bowie-Songs wie „Absolute Beginners“, „This Is Not America“ oder „Where are we Now?“ und am Ende schließlich der Welthit Heroes auch den Abend aus, bei dem es vorrangig um so klassische Themen wie Liebe, Hoffnung und Erlösung geht. Bowies künstlerisches Vermächtnis halt.
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Das Hamburger Schauspielhaus zeigt mit Lazarus – und König Lear – zwei gebrochene Männerfiguren zwischen Resignation und Hoffnung, die mit Edgar Selge und Alexander Scheer gut besetzt zumindest darstellerisch und musikalisch überzeugen können.
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LAZARUS (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 28.12.2019)
Regie: Falk Richter
Bühne: Katrin Hoffmann
Kostüme: Andy Besuch
Musikalische Leitung: Alain Croubalian
Video: Chris Kondek
Videomitarbeit: Ruth Stofer
Licht: Hartmut Litzinger
Dramaturgie: Rita Thiele
Korrepetition: Martin Hornung
Vocal Coach: Jane Comerford
Besetzung:
Newton … Alexander Scheer
Mädchen, später Marley … Gala Othero Winter
Valentine … Tilman Strauß
Elly … Julia Wieninger
Zach … Thomas Mehlhorn
Michael … Yorck Dippe
Japanerin / Maemi … Sachiko Hara
Ben … Jonas Hien
Teenage Girls (Choreographie und Tanz): Ruth Rebekka Hansen, Johanna Lemke, Chris Scherer und Nina Wollny
Band: Sonja Beeh, Kay Buchheim, Hanns Clasen, Alain Croubalian, Bernadette La Hengst, Stephan Krause, Rebecca Oehms und Samantha Wright
Premiere war am 17. November 2018.
Weitere Termine: 13., 23., 24.01. / 03.02. / 02.03. / 21., 22.04. / 16., 17.04.2019
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspielhaus.de
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Zuerst erschienen am 01.01.2019 auf Kulura-Extra.
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